Die Spanierinnen sind Fußballweltmeisterinnen 2023 geworden. Darüber wird kaum noch geredet oder geschrieben. Dennoch werden wir uns auch noch in zehn Jahren an diese WM erinnern. Wegen der phänomenalen sportlichen Leistungen, der TV-Quoten oder der Begeisterung? Ja, auch. Aber vor allem wegen des Kuss-Eklats, der sich anschickt, alles zu überschatten.
“Hat mir nicht gefallen”, das sagte die spanische Fußballnationalspielerin Jennifer Hermoso, nachdem sie bei der Siegerehrung nach dem WM-Finale vom spanischen Verbandschef Luis Rubiales gegen ihren Willen auf den Mund geküsst wurde.
Danach ging eine Welle der Aufregung durch die Medien und die Gesellschaft - wie eine Laola durchs Stadion. Zu Recht. Unzählige Sportler*innen weltweit kritisieren die Aktion. Auch Spaniens Ministerpräsident Petro Sanchez. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock äußerte sich ebenfalls. „Man muss sich nur mal vorstellen, Angela Merkel hätte damals nach dem WM-Sieg der deutschen Männer Philipp Lahm so geküsst", sagte sie im Tagesspiegel. „Da wäre sicherlich die Hölle los gewesen beziehungsweise kann man sich das gar nicht vorstellen. Das Ganze ist unvorstellbar andersherum". Dieses Stilmittel der Umkehrung ist ein altbewährtes, will man sexuell übergriffiges Verhalten von Männern an Frauen verdeutlichen. Warum aber kapieren manche es nicht auch so?
Alle haben damit gerechnet, dass Spaniens Fußballpräsident nach dem Kuss und dem Aufschrei seinen Platz räumt. Me-Too im Fußball, das kann doch niemand wollen! Stattdessen hielt Luis Rubiales bei der außerordentlichen Generalversammlung des spanischen Fußballverband RFEF eine Wutrede. Er sprach von Rufmord, falschem Feminismus und versuchte, sich als Opfer einer "öffentlichen Hinrichtung" darzustellen. Der spanische Verband hatte Aufnahmen veröffentlicht, die beweisen sollen, dass Jenni Hermoso Rubiales vor dem Kuss hochgehoben und somit ihr Einverständnis gegeben haben soll. In seiner bizarren Ansprache wiederholte Rubiales stoisch, dass er nicht zurücktreten werde. Und zwar gleich fünf Mal (ab Minute 3’05) - so als wisse er selbst, wie unglaublich es ist, was er da von sich gibt. Eine einzige Farce.
FC Viktoria Berlin Spielerin Danya Barsalona hat selbst in Spanien bei SD Lagunak in der Primera División Fußball gespielt und arbeitet als Journalistin für die Deutsche Welle. Sie sagt, Verbandspräsident Rubiales habe die Spielerinnen auch vorher schon nicht ernst genommen. Seit Längerem beschweren sich Spielerinnen der spanischen Fußballmannschaften über die Untätigkeit des Verbandes. Was nun passierte, sei ein Schlag ins Gesicht der Spielerinnen und bringe ans Licht, was überall im Frauenfußball passiere, nicht nur in Spanien.
Unterdessen hat die FIFA ein Disziplinarverfahren eingeleitet und Rubiales für 90 Tage suspendiert. Daran ändert auch das im Internet veröffentlichte Video aus dem Mannschaftsbus der Spanierinnen nichts, das zeigen soll, wie die Spielerinnen den Skandal-Kuss kurz nach dem Sieg weglachen. Was bleibt einem übrig?
Verbundenheit und Allyship! Aus Protest gegen das Verhalten von Luis Rubiales sind die 23 Weltmeisterinnen wenig später in den Streik getreten. Eine entsprechende Erklärung der Spielerinnengewerkschaft Futpro unterzeichneten insgesamt 81 aktuelle und ehemalige spanische Spielerinnen. „Ich möchte ganz klar sagen, dass ich zu keinem Zeitpunkt dem Kuss zugestimmt habe (...) und ich habe auch nicht versucht, mich dem Präsidenten zu nähern“, erklärte Hermoso via Futpro. „Ich dulde es nicht, dass mein Wort infrage gestellt wird, und noch weniger, dass etwas erfunden wird, was ich nicht gesagt habe.“ Sie hat inzwischen auch rechtliche Schritte unternommen und Strafanzeige gegen den suspendierten Verbandschef Rubiales erstattet.
Jenni Hermoso (Credit: IMAGO/Daniela Porcelli / SPP)
Unterstützt werden die spanischen Spielerinnen auch von männlichen Kollegen, dem spanischen Nationalspieler Borja Iglesias etwa. "Ich habe die Entscheidung getroffen, solange nicht in der Nationalmannschaft anzutreten, bis sich die Verhältnisse geändert und solche Handlungen nicht mehr straffrei bleiben", schrieb er im Kurznachrichtendienst “X”. Das ganze zeigt insofern Wirkung, als dass der umstrittene Trainer der aktuellen Weltmeisterinnen Jorge Vilda am vergangenen Dienstag von seinen Aufgaben freigestellt wurde. Ist dazu nun alles gesagt und geschrieben - wie es einige augenrollend und in hitzigen Kommentarspalten meinen? Ist das Presseecho unverhältnismäßig? Ist die Berichterstattung aufgebauscht? NEIN. Wer so etwas sagt, dem wurde nie gegen den eigenen Willen an die Brust oder in den Schritt gefasst, dem wurde nie das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen. Wer die Wichtigkeit dieser Debatte nicht erkennt, dem fehlt es an Verständnis für weibliche Mitmenschen und deren alltägliche Erlebnisse.
Die Journalistin Samira El Ouassil schreibt in einer Kolumne, der Zwangkuss sei “eine Demonstration dessen, was Männer in Machtpositionen glauben machen zu dürfen. (...) Ein in einer sehr populären Sportart mächtiger Mann überschreitet vor etlichen Kameras die körperliche Grenze einer Sportlerin unmittelbar nach ihrem Sieg. Es ist eindeutig, negativ, es kam unerwartet, es ist mit den beiden Akteuren personalisiert und hat Identifikationspotenzial. Und dennoch scheint das Ganze manchen zu trivial, um so viel Medienaufmerksamkeit zu legitimieren, weil ihnen die Handlung an sich trivial erscheint, ein Kuss, und jede weitere Umdrehung dementsprechend unnötig in der Abbildung.”
Fest steht: Wir werden so lange darüber reden und schreiben müssen, bis solche “Zwangsbeschmatzungen” nicht mehr vorkommen. Was mich zuversichtlich stimmt, sind zukünftige Generationen, die mit solchen Diskursen aufwachsen und dazulernen. Die 15-jährige Tochter einer Freundin fasste den Fall um den Kuss-Eklat pragmatisch und treffsicher zusammen. Sie sagte sinngemäß so viel wie: Das ist doch klar, dass das nicht in Ordnung ist, wieso wird da überhaupt diskutiert?
Die Hoffnung liegt also darin, dass wir als Gesellschaft irgendwann über die Fähigkeit zum Perspektivwechsel verfügen und genug Empathie haben, damit wir ungewollte Küsse und Schlimmeres nicht mehr länger diskutieren müssen. Die Hoffnung liegt darin, dass unsere Freundinnen, Frauen, Töchter, Nichten, Cousinen oder Enkelinnen niemals gegen ihren Willen geküsst oder angefasst werden. Mic Drop.
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